Schnecke auf dem Gummiband

schnecke

Auf einem 1 km langen unendlich und gleichmäßig dehnbaren Gummiband befindet sich an einem Ende eine Schnecke. In jeder Sekunde kriecht diese 1 cm weit. Am Ende jeder Sekunde wird aber das Gummiband gleichmäßig um 1 km gedehnt.

Frage: Erreicht die Schnecke jemals das andere Ende des Gummibandes?

Nach dem „gesunden Menschenverstand“ ist die Fragestellung eigentlich unsinnig. Es ist „offensichtlich“, dass der Abstand „immer größer“ wird.
Aber, hier versagt der „gesunde Menschenverstand“, denn die harmonische Reihe kommt ins Spiel!

Die harmonische Reihe ist die unendliche Summe

1 + 1/2 + 1/3 + 1/4 + … + 1/n + …

Diese Summe wächst für zunehmendes n über alle Grenzen.
Der erste Nachweis der Divergenz der harmonischen Reihe wurde schon von Nicole d’Oresme erbracht.
Schätzt man die Summanden gegen reziproke Zweierpotenzen ab, wird

1 + 1/2 + 1/3 + 1/4 + … + 1/n > 1 + 1/2 + (1/4 + 1/4) + (1/8 + 1/8 + 1/8 + 1/8) + …

Die geklammerten Größen ergeben stets 1/2, d.h. die Summe besteht aus unendlich vielen Werten 1/2, d.h. der rechte Term wächst über alle Grenzen und somit auch die harmonische Reihe, allerdings sehr langsam.

1 + 1/2 + 1/3 + 1/4 + … + 1/n + …

überschreitet die 10 erst nach mehr als 12300 Gliedern. Die 100 wird erst nach mehr als 2,7 · 1043 Summanden überschritten. Selbst wenn ein Computer seit dem Urknall(!) ununterbrochen je Sekunde 1 Million Glieder addieren würde, wären erst rund 6 · 1023 Summanden addiert. Zum Überschreiten der 100 würde eine 50trillionen Mal längere Zeit benötigt.

Was bedeutet das nun für die Schnecke?

Am Anfang hat die Schnecke einen Abstand zum Ende von 105 cm. Der eine Zentimeter, den sie in der ersten Sekunde zurücklegt, wird beim ersten Strecken des Bandes um 1 km, auf 2 cm vergrößert, da das Band gleichmäßig gedehnt wird. Beim zweiten Strecken werden diese 2 cm um den Faktor 3/2 gedehnt, usw.
Nach dem n.Strecken hat der erste Zentimeter die Länge

1 · 2/1 · 3/2 · 4/3 · … · (n+1)/n = (n+1)/1

Für den zweiten gekrochenen Zentimeter wird

1 · 3/2 · 4/3 · … · (n+1)/n = (n+1)/2

usw. usf.
Zum Zeitpunkt der n.Streckung befindet sich die Schnecke damit

(n+1)/n + (n+1)/2 + (n+1)/3 + … + (n+1)/n = (n+1) (1 + 1/2 + 1/3 + … + 1/n)

vom Anfang entfernt. Das Band ist dann (n+1) 105 cm lang.
Ihr Abstand zum Ende ist somit

d = (n+1) (105 -1 -1/2 – 1/3 – … – 1/n)

Da im 2.Faktor die divergente harmonische Reihe auftritt, existiert ein n, für das der Faktor negativ wird.
Und somit erreicht die Schnecke das Ende!
Da die Zahlenfolge

an = 1 + 1/2 + 1/3 + 1/4 + … + 1/n + … – ln n

gegen den Grenzwert γ = 0,577215664901532…, die Euler-Mascheroni-Konstante, konvergiert, kann man die Zeit abschätzen.
Allerdings beträgt die Wanderzeit der Schnecke rund 1043422 Jahre; eine Zeit, die alle Maße sprengt.